Wie würden Sie klinische Erfahrung und Intuition mit evidenzbasierter Medizin verbinden, um qualitativ hochwertige Diagnosen und Differentialdiagnosen zu stellen?
Intuition ist nicht angeboren, sondern muss entwickelt werden. Sie entsteht aus der Gesamtheit klinischer Situationen, die in ein Wissensnetzwerk integriert werden, das im Gedächtnis so organisiert ist, dass es in der Praxis sofort abrufbar ist. Ein Prinzip, das als Konzept der klinischen Skripte bekannt ist. Solche Wissensnetzwerke können auch Elemente der evidenzbasierten Medizin enthalten, auch wenn diese nicht explizit in Erscheinung treten. Wird jedoch ein Experte/eine Expertin gebeten, seine/ihre Überlegungen explizit zu machen, so kann er/sie durchaus in der Lage sein, einen Bezug zur evidenzbasierten Medizin herzustellen. Beide Aspekte stehen also nicht im Widerspruch zueinander – sie sind vielmehr Ausdruck der Art und Weise, wie Wissen verdichtet und in unser Gedächtnis eingebunden wird.
Wie gehen Sie mit diagnostischer Unsicherheit um, insbesondere wenn Symptome und Befunde keine eindeutige Diagnose zulassen?
Es geht vor allem darum, Unsicherheit als normales Element in den Abwägungsprozess zu integrieren. Das Konzept der Wahrscheinlichkeit einer Diagnose gegenüber der Wahrscheinlichkeit von Komplikationen der Erkrankung oder der Wirksamkeit und Risiken einer Behandlung kann dazu beitragen, trotz Unsicherheit eine Entscheidung zu treffen. In der Praxis muss oft mit einer Behandlung begonnen werden, bevor eine sichere Diagnose vorliegt. Der Schlüssel liegt in der Risiko-Nutzen-Analyse, um zu einem bestimmten Zeitpunkt des Behandlungsverlaufs eine bestimmte Entscheidung zu treffen, und eine Überwachung und Nachsorge zu gewährleisten, die es erlaubt, die Diagnose je nach Verlauf und Ansprechen auf eine bestimmte Behandlung anzupassen. Man muss in der Lage sein, zu erkennen und einzugestehen, dass der anfänglich gewählte Ansatz nicht unbedingt der richtige war, wenn die Entwicklung nicht wie erwartet verläuft. In diesem gesamten Prozess ist der Austausch mit dem Patienten bzw. der Patientin von wesentlicher Bedeutung, um ihn/sie zu einem Partner/einer Partnerin bei der medizinischen Versorgung zu machen.
Welche Aspekte sollten in der Weiterbildung besonders berücksichtigt werden, damit junge Ärztinnen und Ärzte lernen, qualitativ hochwertige Diagnosen zu stellen? Welche Ratschläge würden Sie klinischen Mentor:innen und Ausbilder:innen bzw. «Teachers» geben?
Eine gute Ausbildung in klinischem Denken beinhaltet vor allem die Möglichkeit, wiederholt und oft authentische klinische Erfahrungen zu machen und dabei konstruktives Feedback von einem Supervisor zu erhalten. Dieses Vorgehen wird als sozial-konstruktivistischer Ansatz bezeichnet. Er ermöglicht den Lernenden, ihre eigenen klinischen Wissensskripte zu erstellen und ihre berufliche Identität zu entwickeln. Daher ist es wichtig, dass die lehrenden Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit haben, ihre Lernenden zu beobachten, sie zunächst ihre Gedanken formulieren zu lassen, sie in die Reflexion einzubeziehen, sie dann gezielt zu schulen und ihnen Feedback zu vermitteln. Letzteres ist für den Lernprozess von entscheidender Bedeutung und sollte in einer wohlwollenden Atmosphäre erfolgen. Da die Fähigkeit zur Selbstbeurteilung bei Lernenden häufig gering ist, sollte das Feedback sowohl positive Aspekte enthalten, die weiterverfolgt werden sollten und die den Lernenden möglicherweise nicht bewusst waren, als auch Aspekte, die korrigiert oder verbessert werden sollten. Mitunter neigt man dazu, von Anfang an alles erklären zu wollen, auch wenn dies nicht unbedingt den genauen Bedürfnissen der Lernenden in einer konkreten klinischen Situation entspricht. Wie sagte schon Montesquieu: «Leute, die immer belehren wollen, verhindern oft das Lernen». (Montesquieu, «Vom Geist der Gesetze»).
Wie haben sich Ihre diagnostischen Ansätze und Entscheidungsprozesse im Laufe Ihrer Karriere weiterentwickelt, besonders durch den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt – Stichwort künstliche Intelligenz?
Ich denke, dass der Kern der Überlegungen – nämlich das Erfassen qualitativ hochwertiger Informationen auf Grundlage relevanter Hypothesen – nach wie vor aktuell ist. Was sich stark weiterentwickelt hat, ist die Leistungsfähigkeit der Datenverarbeitung und des Datenabgleichs (und sei es nur in einer elektronischen Patientenakte), die Genauigkeit bestimmter Informationen – z. B. auf der Basis von Point-of-Care-Ultraschall (POCUS) – sowie die immer grössere Verfeinerung manch zusätzlicher Labor- oder bildgebender Untersuchungen. Unterstützung bei der Überlegung und Entscheidungsfindung wird seit vielen Jahren angeboten, erfordert aber eine kritische Haltung. Es gibt nur wenige Belege dafür, dass die zur Unterstützung der Entscheidungsfindung entwickelten Instrumente einen wirklichen Unterschied in Bezug auf die klinischen Ergebnisse machen.
Die in jüngster Zeit aufkommende generative künstliche Intelligenz (LLM) bildet eine Herausforderung, da dieser Ansatz nicht speziell entwickelt wurde, um notwendige Argumente für die medizinische Entscheidungsfindung zu liefern, sondern auf vorhandenen, statistisch verknüpften Daten basiert. Dementsprechend hat sich gezeigt, dass KI den gleichen kognitiven Verzerrungen unterliegen kann wie Menschen, aber auch interessante Vorschläge machen kann, wenn die Anfragen («prompts») präzise und relevant sind.
Umso wichtiger ist es, bei der Analyse der Vorschläge, die diese Instrumente liefern, kritisch zu bleiben. Darüber hinaus entwickeln sich diese Instrumente sehr schnell weiter, und es ist nicht auszuschliessen, dass sie eines Tages eine wichtige Hilfe bei der Reflexion sein werden. Im Moment ist es jedoch schwer vorstellbar, sich ausschliesslich auf sie zu verlassen – d. h. ohne eine begleitende Analyse, die auf menschlicher Intelligenz beruht.
ZUR PERSON
Prof. Dr. med. Mathieu Nendaz, MD, MHPE
Facharzt für Innere Medizin FMH
Mathieu Nendaz ist Internist am Universitätsspital Genf (HUG) und hat einen Master of Health Professions Education (MHPE) an der Universität von Illinois in Chicago erworben. Derzeit ist er zudem Direktor der Abteilung für Entwicklung und Forschung (UDREM), Vizedekan für das Grundstudium sowie Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Genf. Seine Forschungsinteressen umfassen die Innere Medizin und medizinische Ausbildung. In diesem Bereich interessiert er sich besonders für die Entscheidungsfindung, klinisches Denken, klinische Supervision und interprofessionelle Themen. Er engagiert sich stark in der direkten Lehre, der klinischen Supervision und Ausbildung sowie in der Ausbildung von Lehrkräften und der Entwicklung und Organisation von Lehrkonzepten und medizinischen Curricula.
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