
18 – Multimorbidität
In einer alternden Gesellschaft wird Multimorbidität zunehmend zur Regel statt zur Ausnahme. Immer mehr Patientinnen und Patienten leiden gleichzeitig an mehreren chronischen Erkrankungen – eine Realität, die sowohl die medizinische Versorgung als auch die Abrechnungssysteme vor große Herausforderungen stellt. In der medizinischen Kodierung ist der korrekte Umgang mit Multimorbidität entscheidend – nicht nur für eine adäquate Vergütung, sondern auch für Versorgungsqualität, Gesundheitsstatistiken und Forschung.
Daher ist es wichtig, dass alle Diagnosen, welche Aufwand machten, dokumentiert und in der Kodierung abgebildet werden können, siehe auch Blog-Einträge DRG-Checkliste und Haupt- und Nebendiagnose. Die Fallpauschalen werden nicht nur durch Eingriffe und Hauptdiagnosen gelenkt, sondern auch durch wichtige und komplexere Nebendiagnosen, respektive deren Anzahl.
Dabei ist es wichtig, folgende Abkürzungen zu kennen:
Abkürzung | Beschreibung |
CC | CC steht für Comorbidität oder Complication. Eine Diagnose wird als CC detektiert, wenn diese mit statistisch relevanten erhöhten Kosten/resp. medizinischen Aufwänden verbunden ist. Das Vorhandensein von Komplikationen und/oder Komorbiditäten kann die Behandlung erschweren und verteuern, resp. zu einem signifikant höheren Ressourcenverbrauch führen. Ein CC-Kode ist ein Diagnosekode, welcher in der CCL-Matrix gelistet ist. |
CCL | CCL steht für Comobiditäts- und Complikationslevel. Jede CC erhält eine CCL, das heisst, jede relevante Diagnose erhält eine Leveleinteilung mit den Werten 0 bis 4 und zeigt den Schweregrad dieser Diagnose im DRG-System an. Pro Fall können mehrere Diagnosen einen CCL-Wert aufweisen. |
CCL-Matrix | Tabelle mit Diagnosen, die die CC-Werte pro Diagnose widergeben nach Partitionen (mögliche unterschiedliche Werte ob medizinisch oder chirurgische Partition) |
PCCL | Der patientenbezogene Gesamtschweregrad (patient comorbidity and complication level) wird pro Fall einmal widergegeben und stellt die kalkulierte Abhängigkeit von verschiedenen CCL-Werten dar. Der PCCL-Wert wird durch die PCCL-Formel berechnet und ist nicht der rein kumulierte Wert. PCCL werden in den Werten 0 bis 6 angegeben. 0 bedeutet keine relevanten Nebendiagnosen, 6 bedeutet extremst multimorbid. |
PCCL-Split | Der PCCL-Wert eines Falles kann zu einem DRG-Wechsel führen, da eine gewisse Höhe eines PCCL-Wertes DRG-relevant ist, d.h. Bestandteil der Grouper-Logik ist. |
Kodierbeispiel:
42-jährige Patientin mit COVID-19 Pneumonie, die durch ein ARDS und eine Niereninsuffizienz kompliziert wurde. Die Patientin lag 10 Tage auf der Intensivstation. Das Case Weight betrug 27.13, der Rechnungsbetrag circa 270'000 SFR.
HD J80.03 Akutes Atemnotsyndrom des Kindes, Jugendlichen und Erwachsenen [ARDS]: Schweres akutes Atemnotsyndrom des Erwachsenen [ARDS]
U07.1 COVID-19, Virus nachgewiesen CCL 1
C34.3 Bösartige Neubildung: Unterlappen Bronchus CCL 2
J91 Pleuraerguss bei anderenorts klassifizierten Krankheiten CCL 2
J12.8 Pneumonie durch sonstige Viren CCL 3
B97.2 Coronaviren als Ursache von Krankheiten CCL 0
J96.01 Akute respiratorische Insuffizienz, Typ II (hyperkapnisch) CCL 0
N17.83 Akutes Nierenversagen, Stadium 3 CCL 4
N18.3 Chronische Nierenkrankheit, Stadium 3[1] CCL 1
E11.90 Diabetes mellitus, Typ 2, ohne Komplikationen, nicht entgleist CCL 0
G04.8 Sonstige Enzephalitis, Myelitis und Enzephalomyelitis CCL 4[2]
B00.8 Sonstige Infektionsformen durch Herpesviren CCL 4
(Diagnosen mit CCL 1-4 bezeichnet man als CC)
Prozeduren: Intensivstation, Hämodialyse, Komplexbehandlung Covid, etc.
DRG A07A Hochkomplexe Eingriffe oder intensivmedizinische Komplexbehandlung > 2940/3680 Aufwandspunkte oder IMC-Punkte > 3430/4600 Aufwandspunkte oder neurologische Frührehabilitation ab 7 Behandlungstage oder intensivmedizinische Komplexbehandlung > 2058/2484 Aufwandspunkte mit komplexer Vakuumbehandlung oder bestimmte Intensivmedizinische und IMC-Aufwandspunkte kombiniert
CW 27.13 (Rechnungsbetrag ca. 270'000 Fr, plus ZE)
PCCL 5
Die Herausforderung in der Kodierung
Die medizinische Kodierung dient nicht nur der Abrechnung stationärer Leistungen nach dem DRG-System, sondern auch der Versorgungsplanung und Statistik. Bei multimorbiden Patienten besteht die Herausforderung darin, Haupt- und Nebendiagnosen sorgfältig voneinander abzugrenzen und dabei die Kodierregeln korrekt anzuwenden.
Typische Probleme in der Praxis:
- Unklare Hauptdiagnose: Bei mehreren akuten Problemen ist es oft nicht eindeutig, welche Diagnose den stationären Aufenthalt primär begründet hat, respektive welche Diagnose die meisten medizinischen Ressourcen verwendete.
- Nebendiagnosen mit Relevanz: Nur Diagnosen, die eine pflegerische, therapeutische oder diagnostische Konsequenz hatten, dürfen als Nebendiagnosen kodiert werden – hier ist eine präzise Dokumentation entscheidend.
- Verweben von Diagnosen: Chronische Erkrankungen beeinflussen häufig den Verlauf anderer Diagnosen (z. B. Diabetes und Wundheilungsstörungen), was kodiertechnisch korrekt abgebildet werden muss.
Herausforderungen und typische Fehlerquellen
- Unvollständige Dokumentation: Gerade bei bekannten Vorerkrankungen werden Diagnosen oft als „bekannt“ vorausgesetzt, ohne sie im aktuellen Fall medizinisch zu begründen. Ohne nachvollziehbare Dokumentation ist jedoch keine Kodierung möglich.
Beispielsweise Diabetes Mellitus (DM): der DM Typ 2 nicht entgleist hat keinen CCL Wert. Ist ein DM jedoch entgleist, hat er in den meisten Konstellationen einen CCL Wert. Ebenso ein DM mit beschriebenen, assoziierten Komplikationen (z.B. neurologisch, peripher vaskulär, Nierenk., Augenk., mit Ketoazidose) hat ein CCL-Wert. Aus der medizinischen Dokumentation müssen jedoch die Komplikationen dem Diabetes Mellitus zuteilbar sein, um ein DM-Komplikationskode wählen zu können. - Fehlende Schweregrad-Differenzierung: Viele Erkrankungen, z. B. Herzinsuffizienz oder Nierenfunktionsstörungen, haben ICD-Codes mit unterschiedlichen Schweregraden. Die Wahl des richtigen Codes kann Auswirkungen auf die DRG haben.
- Kodierkonflikte: Bei konkurrierenden Diagnosen oder unspezifischen Symptomen kann es zu Unklarheiten kommen, welche Diagnose als Haupt- oder Nebendiagnose zu werten ist.
Multimorbidität als Chance für bessere Versorgung
Richtig kodiert, erlaubt Multimorbidität auch eine präzisere Darstellung der Krankheitslast in der Bevölkerung und kann zu einer bedarfsgerechteren Ressourcenverteilung führen. Zudem ermöglichen strukturierte Kodierungen eine genauere Versorgungsforschung und gezieltere Qualitätsmaßnahmen. Daher: Multimorbidität ist in der medizinischen Kodierung kein Sonderfall mehr, sondern alltägliche Realität. Eine präzise und vollständige Kodierung sämtlicher relevanter Diagnosen ist unerlässlich – sowohl für die sachgerechte Abrechnung als auch für die Abbildung der Versorgungsrealität. Damit dies gelingt, braucht es ein Zusammenspiel aus medizinischem Wissen, Dokumentationssorgfalt und kodierspezifischer Expertise.
Frailty und Multimorbidität in der medizinischen Kodierung
Frailty bezeichnet einen geriatrischen Syndromkomplex, der mit erhöhter Anfälligkeit gegenüber Stressoren, funktionellem Abbau, Gewichtsverlust, Muskelabbau (Sarkopenie), Fatigue und reduzierte physiologische Reserven einhergeht. Es handelt sich also nicht um eine einzelne Erkrankung, sondern um ein Syndrom erhöhter Verletzlichkeit. Aktuell ist Frailty im deutschen ICD-10-GM nur indirekt kodierbar. Es gibt (noch) keinen spezifischen ICD-10-Kode, der das geriatrische Frailty-Syndrom eindeutig abbildet. Stattdessen müssen einzelne Symptome, Nebendiagnosen oder Begleiterkrankungen (z. B. R54 für Senilität, R63.4 für abnorme Gewichtsabnahme, M62.84 für Sarkopenie) kodiert werden, um die Frailty zu beschreiben. Auch funktionelle Einschränkungen (z. B. Z74.1 für Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens) können Hinweise auf Gebrechlichkeit geben.
Die Behandlungsintensität ist hoch – insbesondere im stationären Bereich. Wenn aber der Zustand der Frailty nicht korrekt oder gar nicht kodiert wird, spiegelt sich die Behandlungsrealität nicht im DRG-System wider. Das kann zu einer Unterfinanzierung führen.
Ein weiteres Problem: Frailty beeinflusst die Behandlungsplanung erheblich, etwa bei der Entscheidung für oder gegen invasive Therapien. Dennoch bleibt dieser Zustand oft "unsichtbar" in der Kodierung. Wir empfehlen daher, besonders bei solchen komplexen Fällen auf die Vollständigkeit der Dokumentation zu achten, und Werkzeuge wie geriatrische Assessments (z.B. Barthel-Index, MMS, Geriatrie-Check, Timed-Up-and-Go-Test) für wichtige Anhaltspunkte in der Klinik zu verwenden.
[1] Hier sichtbar ist, dass eine „acute on chronic“ Niereninsuffizienz mit einem Kode für Akut und einem Kode für Chronisch abgebildet wird. Beide Zustände haben ein jeweiliges Stadium, welche medizinisch in der Dokumentation ergänzt werden sollte.
[2] Anmerkung: die Herpesvirusenzephalitis wird mit zwei separaten Kodes abgebildet, einmal mit der Grunderkrankung Enzephalitis, und dazu den Vermerk des Herpesvirus. Beide ICD-Codes haben in diesem Fall die höchsten CCL-Werte.